Spuren der Zeit

Die­ser Stein, mit den Spu­ren aus der Ver­gan­gen­heit liegt im Wald und ruht. Meine Ge­dan­ken ver­tie­fen sich in seine Jahr­tau­sende al­ten Zei­chen. Die Zeit ver­geht. Sie kommt nicht wie­der. Trotz­dem be­geg­nen mir auf mei­nem Weg Bruch­stü­cke des Ver­gan­ge­nen: eine Nach­richt, ein Mensch, ein Duft, ein Bild, ein Wort, ein Lied, ein Brief, ein­zelne Fet­zen. Oder aber ein Stein. Manch­mal ho­len sie mich ein und zei­gen ihr Ge­sicht. Dann tau­che ich ein und denke an Dich, an ihn, an sie. Schöne Er­in­ne­run­gen brei­ten sich aus, brin­gen Freude und Dank­bar­keit und die Hoff­nung auf ein Wie­der­se­hen. An­dere brin­gen Schmerz. Dann ver­schwimmt die Ge­gen­wart mit dem Ver­gan­ge­nen, der Blick wird trüb und ver­schlei­ert die Welt. Doch das Be­wusst­sein, in der Ge­gen­wart zu le­ben, er­löst mich von die­sen Ge­dan­ken. Un­er­war­tet und plötz­lich eine Nach­richt vom Tod. Für ei­nen Mo­ment er­starre ich. Ver­stor­ben. Ein Le­ben ist er­lo­schen. In der Ver­gan­gen­heit ver­tieft flie­ßen Trä­nen. Erst jetzt, eine Weile spä­ter, wird das Un­ver­ständ­li­che klar. Die ein­zel­nen Teile bil­den ein sinn­vol­les Gan­zes, ge­nau wie die­ser Stein, der die ver­gan­gene Zeit zu­sam­men hält. Ich schließe die Tür und kehre zu­rück. Die Ge­gen­wart ist die Chance, den Weg neu zu ge­stal­ten. Was bleibt, sind die Spu­ren der Zeit.

Mein Tag beginnt

Ich muss zur Ar­beit. Komm mit, steig ein, lass Dich mit­neh­men. Stell Dir vor, wie Du am frü­hen Mor­gen aus dem Haus gehst. Schon vor der Tür ver­ab­schie­det Dich der beste Hund. Draus­sen at­mest Du die fri­sche Luft der Fel­der und Wäl­dern ein. Der Win­ter neigt sich dem Ende und die ers­ten Früh­lings­bo­ten zei­gen ihre bun­ten Köpfe. Es ist noch dun­kel. Al­les ist still, die Welt schläft noch. Aus der Ferne er­tö­nen die ers­ten Weck­rufe der Kra­ni­che. Du ge­nießt die­sen Mo­ment, steigst in Dein Auto und fährst los. We­nig spä­ter taucht über den Fel­dern aus dem Ne­bel die auf­ge­hende Sonne auf. Sie ist rie­sen­groß und leuch­tet in ih­rem schöns­ten Rosa. Der Him­mel lässt sich von ihr ver­zau­bern. Du schaust in die Weite und freust Dich über die­sen wun­der­vol­len An­blick. Du fährst wei­ter. Im Ra­dio läuft ent­spannte Mu­sik. Lang­sam wird es hell. Plötz­lich ent­deckst Du ganz in der Nähe zwei Kra­ni­che. Die Vö­gel des Glücks schrei­ten ge­müt­lich über das Feld, hin­ter ih­nen die auf­ge­hende Sonne, die dun­kel­orange leuch­tet. Es ist ein schö­ner Au­gen­blick.

Et­was wei­ter be­grü­ßen Dich die ers­ten Häu­ser der na­he­lie­gen­den Dör­fer. In ei­ni­gen Fens­tern brennt schon das Licht. Die Men­schen wer­den wach. Auf der Straße be­geg­nest Du kaum ei­nem Auto bis das Orts­ein­gangs­schild er­scheint und der Stadt­ver­kehr be­ginnt. Am Rande der Stadt war­tet ein traum­haf­ter Blick auf den gro­ßen See auf Dich. Du er­haschst die wun­der­volle Land­schaft, wie sich die Bäume des Na­tio­nal­parks im Was­ser spie­geln und die röt­li­che Sonne die Nacht ver­ab­schie­det. Du freust Dich. Nun folgst Du dem Ver­kehr. Für eine Weile be­glei­tet Dich der See und im­mer wie­der fängst Du die­sen schö­nen Blick ein. Am Orts­aus­gangs­schild bleibst Du an der ro­ten Am­pel ste­hen. Du hast zwar noch ei­nige Zeit zu fah­ren, doch es bleibt span­nend. Was be­geg­net Dir heute? Viel­leicht ei­nige Rehe auf den Fel­dern? Viel­leicht ein gro­ßer Greif­vo­gel? Viel­leicht so­gar ein See­ad­ler? Oder doch die vor­bei­flie­gen­den Zug­vö­gel? Die Mu­sik aus dem Ra­dio be­glei­tet Dich. Du bist zu­frie­den. Du schaust schnell um Dich und ent­deckst in der Ferne tat­säch­lich ei­nige Rehe. Wie schön das aus­sieht, wenn sie so in Ruhe äsen. Von Wei­tem be­grüßt Dich der hohe Turm des Klos­ters und Deine Fahrt neigt sich dem Ende.

Du biegst in die kleine Stadt ein, die vom Was­ser um­ge­ben ist. Auf den Seen siehst Du nur ei­nige En­ten und Ko­mo­rane. In der war­men Jah­res­zeit pas­sie­ren hier Hun­derte von Boo­ten die Was­ser­wege. Über ei­nen bu­cke­li­gen al­ten Damm fährst Du auf die In­sel. Du kannst Dir Zeit neh­men und ge­mäch­lich durch die en­gen Stra­ßen fah­ren. Hin­ter Dir strahlt die Sonne mitt­ler­weile in ih­rem hells­ten Gelb. Nun ver­lässt Du die In­sel über eine Brü­cke und parkst gleich ge­müt­lich ein. Du steigst aus und at­mest tief durch. Die fri­sche Luft durch­strömt Dei­nen Kör­per. Der Tag be­ginnt!

Adé

Nun kam die Zeit des Ab­schieds. Auch heute zeigte die In­sel ihr schöns­tes Ge­sicht. Vom hell­blauen Him­mel strahlte die Sonne. Hier auf die­sem nord­öst­lichs­ten Zip­fel war sie zu Hause. Eine fri­sche Brise ver­wehte mein Haar und mit je­dem Schritt ent­spannte ich im­mer mehr.  Meine Ge­dan­ken lös­ten sich in der Weite des Ho­ri­zonts auf. Ich schaute mich ein letz­tes Mal um.

Die letz­ten Spu­ren des Win­ters be­rühr­ten die Küste. Wie zum Ab­schied küsste der Schnee das Meer. Eine Möwe schaute zum Ho­ri­zont. Sie ver­weilte in der Stille des Win­ters.

Doch schon bald ver­weht mit dem Früh­ling die Stille. Der Som­mer lässt tau­sende Strand­körbe wach­sen. Aus der Ferne weht ein Gruß heran. Auf ein bal­di­ges Wie­der­se­hen.

Der Blick in die Weite

»Sieh, wie dich das Meer an­schaut,« flüs­terte die kleine Mu­schel. »Nimm dir die Zeit in die Weite zu hor­chen. Das Rau­schen der Wel­len ent­hüllt seine Ge­heim­nisse.« Der gol­dene Sand glänzte in der Sonne. Ich griff nach ihm. Die ein­zel­nen Körn­chen flo­ßen von mei­ner Hand­flä­che zu­rück in das san­dige Meer. Ich schweifte mit mei­nem Blick in die Weite. Das Meer ließ mich an sei­ner Un­end­lich­keit teil­ha­ben. Ich konnte es fas­sen und ver­spürte eine un­end­li­che Frei­heit.