Die Zeit-Diebe

»Warum se­hen die grauen Her­ren ei­gent­lich so grau aus?« wollte Momo von Meis­ter Hora wis­sen.
»Weil sie von et­was To­tem ihr Da­sein fris­ten«, ant­wor­tete Meis­ter Hora. »Du weisst ja, dass sie von der Le­bens­zeit der Men­schen exis­tie­ren. Aber diese Zeit stirbt buch­stäb­lich, wenn sie von ih­rem wah­ren Ei­gen­tü­mer los­ge­ris­sen wird. Denn je­der Mensch hat seine Zeit. Und nur so lang sie wirk­lich die seine ist, bleibt sie le­ben­dig.«
»Dann sind die grauen Her­ren also gar keine Men­schen?«
»Nein, sie ha­ben nur Men­schen­ge­stalt an­ge­nom­men.«
»Aber was sind sie dann?«
»In Wirk­lich­keit sind sie nichts.«
»Und wo kom­men sie her?«
»Sie ent­ste­hen, weil die Men­schen ih­nen die Mög­lich­keit ge­ben, zu ent­ste­hen. Das ge­nügt schon, da­mit es ge­schieht.
Und nun ge­ben ih­nen die Men­schen auch noch die Mög­lich­keit, sie zu be­herr­schen. Und auch das ge­nügt, da­mit es ge­sche­hen kann.«
»Und wenn Sie keine Zeit mehr steh­len könn­ten?«
»Dann müss­ten sie ins Nichts zu­rück, aus dem sie ge­kom­men sind.«
Meis­ter Hora nahm Momo die Brille ab und steckte sie ein.
                                                                         Momo, Mi­chael Ende

Einmal Berlin und zurück

 

Am letz­ten Wo­chen­ende wa­ren wir in Ber­lin. In nur sechs Stun­den er­leb­ten wir ziem­lich viel. Ich schätze, so viel wie sonst an sechs Wo­chen­en­den: wir wa­ren auf ei­ner Demo, wir ha­ben ei­nige Freunde ge­trof­fen, wir sind vom Lehr­ter Bahn­hof bis zum Ro­ten Platz ge­lau­fen und zu­rück. Dann nahm ich im Tier­gar­ten an ei­nem 10-km-Frau­en­lauf mit über 18.000 Läu­fe­rin­nen teil. Das muss man sich erst­mal vor­stel­len: 18.000 Men­schen, das sind drei Mal so viele, wie in der Stadt, in der ich ar­beite.

Mein letz­ter Ber­lin­be­such ist fast zwei Jahre her. Selt­sam, dass ich mir so viel Zeit da­mit ge­las­sen habe. Denn als ich vor un­ge­fähr vier Jah­ren Ber­lin ver­ließ, tat ich es mit ei­nem wei­nen­den Her­zen und wollte so oft wie mög­lich zu­rück­keh­ren. Ich war mir si­cher, dass diese große Stadt für Ewig­kei­ten der ein­zige Fleck auf die­ser Erde blei­ben würde, an dem ich mich wohl fühle. Als ich ei­nige Jahre zu­vor Ber­lin zog, wurde diese Stdt auf An­hieb zu mei­ner neuen Hei­mat und der ein­zige Ort an dem ich mich ver­stan­den fühlte. End­lich hatte ich ei­nen Platz ge­fun­den, der mir das zeigte, was ich seit Jahr­zehn­ten in mir trug: Os­ten und Wes­ten in ei­nem. Diese Stadt spie­gelte mein In­ne­res wie­der. Bei den aus­gie­bi­gen Spa­zier­gän­gen ent­lang der Spree, auf den neuen und al­ten Stra­ßen, vor­bei an den gro­ßen Ge­bäu­den konnte ich es se­hen, rie­chen und spü­ren. Die Er­in­ne­run­gen aus mei­ner Kind­heit ka­men zum ers­ten Mal zu­rück: kalte Win­ter, Was­ser, Tou­ris­ten, Plat­ten­bau­ten, Stra­ßen­bah­nen, Kul­tur, Ge­schichte und Thea­ter. Nur die Ost­see fehlte mir. Und ob­wohl ich im­mer noch nicht wusste, wo meine Wur­zeln la­gen, gab mir Ber­lin ein Ge­fühl von Hei­mat. Hier konnte ich so sein wie ich bin, nie­mand fragte nach mei­ner Her­kunft, Vor­ur­teile wa­ren tabu, ich hatte das Ge­fühl, end­lich frei zu sein. Zu­nächst machte es mir nichts aus, zen­tral, zwi­schen Mil­lio­nen von Men­schen, Tau­sen­den von Au­tos und Hun­der­ten von Häu­sern zu woh­nen. Die vie­len Mög­lich­kei­ten be­geis­ter­ten mich und ich wollte es er­le­ben, es mit­neh­men und da­bei sein. Die An­ony­mi­tät und die Un­ab­hän­gig­keit ge­noss ich sehr, aber es gab es kaum je­man­den, dem ich ver­trauen oder auf den ich mich ver­las­sen konnte. Schon bald merkte ich, dass mir et­was fehlte, aber ich wusste nicht was. Ich hatte al­les und ir­gend­wie doch nichts. Ich fühlte mich ein­sam in die­sem Chaos und plötz­lich kam die Sehn­sucht nach Stille und Na­tur. Ich dachte ein Um­zug in die Vor­stadt wäre eine Lö­sung. Ich zog also in eine 1-Zim­mer-Woh­nung, et­was Ab­seits vom Ge­sche­hen in ei­ner ru­hi­gen Gasse. Hier be­suchte mich sel­te­ner je­mand, hier brauchte ich län­ger zum Zen­trum. Doch mir fehlte im­mer noch et­was. Ich dachte an meine al­ten Freunde, an meine Fa­mi­lie und an ei­nen bes­ser be­zahl­ten Job. Sollte ich doch in den Wes­ten zu­rück ge­hen? Ich wusste ein­fach nicht, wo­hin mit mir. Ob­wohl es schmerzte, ent­schied ich mich Ber­lin zu ver­las­sen. Und wie­der ein Um­zug. Es wa­ren in­zwi­schen so viele, dass ich sie noch nicht ein­mal an vier Hän­den ab­zäh­len konnte. Ein wei­te­rer Ver­such, mein in­ne­res Gleich­ge­wicht zu fin­den. Freunde, Kol­le­gen, Be­kannte und Un­be­kannte pro­phe­zei­ten mir: »Du kommst wie­der«. Ich kam mir vor, wie ei­nem rie­si­gen La­by­rinth. Doch auch der Wes­ten machte mich nicht viel glück­li­cher. Die Ein­bil­dung, dass al­les wie­der so sein würde wie frü­her, stellte sich als falsch her­aus. Ich habe mich ver­än­dert, meine al­ten Freunde wa­ren plötz­lich weg und der bes­ser be­zahlte Job wurde zum Hor­ror. Meine Fa­mi­lie war da, das war schön! Ich be­gann je­doch zu be­grei­fen, dass mir die Wur­zeln fehl­ten. Ich kannte den Wes­ten und ich kannte Ber­lin. Tief ver­gra­ben in Er­in­ne­run­gen und in ei­ner Sehn­sucht nach Ge­bor­gen­heit, trug ich den Os­ten in mei­nem Her­zen, aber ich kannte ihn nicht wirk­lich. Als wir da­mals vor dem Mau­er­fall in den Wes­ten gin­gen, musste ich al­les hin­ter mir las­sen und plötz­lich wusste ich nicht mehr, wer ich bin. Die Mauer gibt es schon lange nicht mehr und der Os­ten war­tete dar­auf, von mir neu ent­deckt zu wer­den. Ich stieg an ei­nem schö­nen Som­mer­tag in mein Auto und fuhr los. Da­hin, wo die Sonne auf­geht. Und als ich an der Ost­see stand und mir die Sonne ent­ge­gen­blin­zelte,  fasste mich mein Glück an meine Hand und ließ mich nicht mehr los. Ich spürte plötz­lich wo­hin mein Herz ge­hörte und blieb hier.

Und nun nach zwei Jah­ren bin wie­der in Ber­lin, eine Stadt, die ein­mal mein zu Hause war. Und ob­wohl ich meine, diese Stadt zu ken­nen, ist sie mir im­mer noch fremd. Die Di­stanz hat mei­nen Blick­win­kel ver­än­dert. Ber­lin war ein Not­aus­gang. Heute merke ich, dass mir diese Stadt zu groß, zu laut, zu un­ru­hig ist. Die Stra­ßen we­cken Er­in­ne­run­gen, um die Ecke woh­nen ein paar Freunde. Leere Au­gen star­ren mich an, ver­wirrte Ge­stal­ten su­chen nach Auf­merks­ameit. Eine Stadt in der sich viele ein­same Her­zen be­geg­nen. Sie su­chen nach Liebe und flüch­ten sich in Dun­kel­heit. Ihre Frei­heit ist zwi­schen den Mau­ern der Häu­ser ein­ge­sperrt und ihr Blick kennt nur die Weite der brei­ten Stra­ßen. Sie füh­ren ein Dop­pel­le­ben und kei­ner kennt sie so rich­tig. Ich schaue sie an und sehe: keine Wur­zeln, keine Fa­mi­lie, schwan­kend, um­her­ir­rend, halt­los, in Grup­pen aber trotz­dem al­leine. Hier wird dich Nie­mand ver­mis­sen. Ein Ort an dem das Kom­men und Ge­hen an der Ta­ges­ord­nung ist, künst­lich ge­schaf­fen, vol­ler Kon­sum und vol­ler Sehn­süchte. Ich will hier weg, nach Hause. Da­hin, wo mich die lie­be­vol­len Au­gen an­schauen, wo mir die Stille Ent­span­nung und die Na­tur Ge­las­sen­heit bringt. Da ist mein Glück, da ist meine Liebe.

Mein erster Frühling auf dem Land

In den ver­gan­ge­nen we­ni­gen Ta­gen pas­sierte so viel um uns herum, dass ich es kaum in Worte fas­sen kann. Die klei­nen Wun­der der Na­tur, die ich tag­täg­lich be­ob­ach­ten darf, be­geis­tern mich sehr. Bei uns im Gar­ten und hier auf dem Land kann man das Le­ben se­hen und an­fas­sen. Die Pfan­zen ge­dei­hen un­auf­hör­lich, im­mer mehr Tiere zei­gen sich auf mei­nem Weg. Die Raps­fel­der strah­len leuch­tend­gelb. Die Luft ist er­füllt von ih­rem süß­li­chen Duft. Die Bäume ha­ben nun ihr grü­nes Kleid an­ge­nom­men, an je­der Ecke blü­hen die bun­ten Früh­lings­blu­men und die Vö­gel­chen zwit­schern. Ich staune, wie schnell al­les um mich herum wächst. So in­ten­siv und be­wusst wie in die­sem Jahr habe ich die Na­tur bis­her noch nicht er­lebt. Es ist schließ­lich mein ers­ter Früh­ling auf dem Land, fern von der Stadt. End­lich ist in mir die Ruhe ein­ge­kehrt, end­lich weiß ich, dass mich die vie­len Reize der Groß­stadt über­for­dert ha­ben. Nur da­mals wusste ich es noch nicht. Ich dachte es muss so sein. Schließ­lich war ich in mei­nem Kopf be­ein­flusst, dass nur ein Le­ben in der Stadt Er­fül­lung bringt. Et­was Land­luft schnup­perte ich nur bei Be­su­chen und Durch­fahr­ten. Ich bin in ei­ner Me­tro­pole groß und in ei­ner 3-Mil­lio­nen-Men­schen-Stadt er­wach­sen ge­wor­den. Als Vor­stadt­kind hatte ich bei­des di­rekt vor mei­nen Fü­ßen: eine ge­schichts­träch­tige, über 1000 Jahre alte Groß­stadt und die Na­tur. Denn wir leb­ten am Rand ei­nes rie­si­gen Wal­des und nur zwei Ki­lo­me­ter von der Ost­see ent­fernt. Doch dann sie­del­ten wir um, ca. 1200 km west­wärts und weit über die Mauer hin­aus. Plötz­lich hatte ich nur noch den Ge­stank ei­ner In­dus­trie­stadt in der Nase, kein Was­ser, kein Wald, keine fri­sche Luft. Nur die Sehn­sucht nach den gro­ßen Bäu­men, der Ost­see und den al­ten Stra­ßen blieb. Der Ge­danke aufs Land zu zie­hen, kam mir nie in den Sinn. Ganz im Ge­gen­teil, die Me­tro­po­len reiz­ten mich. Ich wollte was er­le­ben, meine Sehn­sucht und meine Un­ruhe stil­len. Ei­nen klei­nen Aus­gleich fand ich in ab­ge­le­ge­nen Wäld­chen oder in Parks. Aber mir fehlte trotz­dem was. Der Dschun­gel der Groß­stadt, die schein­bar un­end­li­chen Mög­lich­kei­ten und die Su­che nach Aben­teu­ern füll­ten die Leere in mir nicht aus.

Doch nun bin ich hier auf dem Land. Vol­ler Liebe und Dank­bar­keit. Fern von Krach, Ge­stank und Plas­tik. So nah an den Wäl­dern, in Stille, fast an der Ost­see, die Groß­stadt nicht weit weg. Und die Er­kennt­nis: Was braucht man mehr um glück­lich zu sein?