»Wenn du nicht allein sein kannst, wird die Liebe nicht lange an deiner Seite verweilen. Denn auch die Liebe braucht Ruhezeiten, damit sie durch den Himmel reisen und sich auf andere Weise offenbaren kann. Keine Pflanze und kein Tier überlebt, wenn sie nie allein gelassen werden. Auch das Feld muss hin und wieder allein gelassen werden, damit es fruchtbar bleibt. Kein Kind wird etwas über das Leben lernen, keine Arbeit sich entwickeln und verändern können, wenn ihnen Alleinsein verwehrt wird.
Alleinsein bedeutet nicht die Abwesenheit von Liebe, sondern deren Ergänzung. Alleinsein heißt nicht, dass man ohne Begleitung ist, sondern es meint den Augenblick, in dem unsere Seele zu uns sprechen und uns helfen kann, Entscheidungen für unser Leben zu treffen. Daher sind diejenigen gesegnet, die gut mit sich selbst allein sein können und die sich nicht voller Angst in Arbeit vergraben oder mit Zerstreuung abzulenken versuchen. Denn wer niemals allein ist, kennt sich selbst nicht. Und wer sich selbst nicht kennt, fürchtet die Leere. Doch diese Leere gibt es nicht. Eine ungeheuer große Welt verbirgt sich in unserer Seele und wartet darauf, entdeckt zu werden. Siest da mit ihrer ganzen unverbrauchten Kraft, doch sie ist so neu und so mächtig, dass wir uns nicht eingestehen wollen, dass es sie gibt. (…)
Und diejenigen, die sich vor dem Alleinsein nicht fürchten, erwartet ein neues Lebensgefühl. In der Abgeschiedenheit werden sie der Liebe gewahr werden, die manchmal unbemerkt kommt. In der Abgeschiedenheit werden sie die Liebe, die gegangen ist, begreifen und achten. In der Abgeschiedenheit werden sie lernen, dass Neinsagen nicht immer ein Mangel an Großzügigkeit und dass Jasagen nicht immer eine Tugend ist. (…)
Und jene, die das Alleinsein bedrückt, sollten sich in Erinnerung rufen, dass wir in den entscheidenden Augenblicken des Lebens immer allein sind. Wie das Kind, wenn es aus dem Leib der Mutter kommt. Egal, wie viele Menschen bei seiner Geburt zugegen sind, letztlich entscheidet es allein, ob es leben will. Wie der Künstler, der allein sein und den Stimmen der Engel lauschen muss, damit seine Arbeit wirklich gut wird. Wie wir, wenn wir dereinst im wichtigsten und meistgefürchteten Augenblick unseres Lebens allein sein werden — im Angesicht des von uns ungeliebten Todes. So wie die Liebe zu Gott gehört, gehört das Alleinsein zum Menschen. Und beide bestehen für jene einträchtig nebeneinander, die das Wunder des Lebens begreifen.«
Paulo Coelho — Die Schriften von Accra