Kategorie: Hier und da
Auf den Amazonas des Nordens
Was für ein Glück für uns, dass wir in einer der schönsten Ecken Deutschlands leben. Hier, im Land der tausend Seen, kann man im Sommer baden, Fahrrad fahren, Kraniche und Adler beobachten und die Natur genießen. Wir haben hier frische Luft und in diesem Jahr hatten wir sogar die meisten Sonnentage. Leider wird die Zeit von dem ganzem Alltagsgeschehen ganz schön aufgesaugt. Man dreht sich kaum um und schon ist wieder Freitag. Die Tage huschen einfach so an einem vorbei. Die Zeitdiebe sind auch uns auf den Fersen. Doch wir merken oft im richtigen Moment, dass sie uns zu nahe kommen und dann nehmen wir uns die Zeit zum Leben, Genießen und Sein.
So war es auch vor einigen Wochen, als uns der Sommer mit schönstem Sonnenschein verwöhnte. Wir machten uns kurzentschlossen auf den Weg zur Peene, einem kleinem Fluß, der auch Amazonas des Nordens genannt wird, weil die Natur hier noch größtenteils unberührt ist und er sich in unzählige kleine Arme verzweigt. Ich habe mich schon lange auf dieses Abenteuer gefreut. Für eine Expedition auf dem Amazonas gibt es nichts besseres als ein Kanu. Wir liehen uns also einen Boot aus, zogen unsere Schwimmwesten an und gingen auf die große Fahrt. Der Himmel leuchtete in seinem schönstem Blau. Die Freude, auf dem Wasser zu sein, erfüllte unsere Herzen. Nach wenigen Paddelschlägen hatten wir den gemeinsamen Rhythmus gefunden. Die Reise konnte beginnen.
Um entspannt paddeln zu können, mussten wir zunächst die Stadt durchqueren, denn die vielen Raser auf ihren Motorbooten störten mich sehr. Sie machten Lärm und Gestank und es schien mir, als wenn sie mit der wundervollen Natur nichts besseres anzufangen wüssten. Zum Glück konnten wir auf der Tollense, einem Nebenarm der Peene, weiterpaddeln. Dort begegneten wir kaum einem Menschen, nur einige wenige Angler standen am Ufer. Wir versuchten möglichst leise zu sein und genossen dabei die Umgebung. Der Fluß war so klar, dass wir unter uns kleine Fische und viele Pflanzen sehen konnten. Auf dem Wasser drehten die flinken Wasserläufer ihre Runden.
Plötzlich hörten wir Flügelschläge. Direkt vor uns flog ein Seedler aus seinem Versteck ins Freie. Was für ein ergreifendes Erlebnis. Wir paddelten beeindruckt weiter. Vor uns überquerte eine kleine Schlange den Fluß, hier und da machten einige Enten Rast am Ufer. Nach einer Weile tauchte vor uns die Ruine einer alten Eisenbahnbrücke auf.
Wir entschieden uns dort eine Pause zu machen. Ich stieg ans Ufer, legte mich ins Gras und schaute in den wolkenlosen Himmel. Ich fühlte mich frei und glücklich, wie der Adler, der irgendwo über uns kreiste. Ich genoss es, so mit der Natur verbunden zu sein.
Einmal Berlin und zurück
Am letzten Wochenende waren wir in Berlin. In nur sechs Stunden erlebten wir ziemlich viel. Ich schätze, so viel wie sonst an sechs Wochenenden: wir waren auf einer Demo, wir haben einige Freunde getroffen, wir sind vom Lehrter Bahnhof bis zum Roten Platz gelaufen und zurück. Dann nahm ich im Tiergarten an einem 10-km-Frauenlauf mit über 18.000 Läuferinnen teil. Das muss man sich erstmal vorstellen: 18.000 Menschen, das sind drei Mal so viele, wie in der Stadt, in der ich arbeite.
Mein letzter Berlinbesuch ist fast zwei Jahre her. Seltsam, dass ich mir so viel Zeit damit gelassen habe. Denn als ich vor ungefähr vier Jahren Berlin verließ, tat ich es mit einem weinenden Herzen und wollte so oft wie möglich zurückkehren. Ich war mir sicher, dass diese große Stadt für Ewigkeiten der einzige Fleck auf dieser Erde bleiben würde, an dem ich mich wohl fühle. Als ich einige Jahre zuvor Berlin zog, wurde diese Stdt auf Anhieb zu meiner neuen Heimat und der einzige Ort an dem ich mich verstanden fühlte. Endlich hatte ich einen Platz gefunden, der mir das zeigte, was ich seit Jahrzehnten in mir trug: Osten und Westen in einem. Diese Stadt spiegelte mein Inneres wieder. Bei den ausgiebigen Spaziergängen entlang der Spree, auf den neuen und alten Straßen, vorbei an den großen Gebäuden konnte ich es sehen, riechen und spüren. Die Erinnerungen aus meiner Kindheit kamen zum ersten Mal zurück: kalte Winter, Wasser, Touristen, Plattenbauten, Straßenbahnen, Kultur, Geschichte und Theater. Nur die Ostsee fehlte mir. Und obwohl ich immer noch nicht wusste, wo meine Wurzeln lagen, gab mir Berlin ein Gefühl von Heimat. Hier konnte ich so sein wie ich bin, niemand fragte nach meiner Herkunft, Vorurteile waren tabu, ich hatte das Gefühl, endlich frei zu sein. Zunächst machte es mir nichts aus, zentral, zwischen Millionen von Menschen, Tausenden von Autos und Hunderten von Häusern zu wohnen. Die vielen Möglichkeiten begeisterten mich und ich wollte es erleben, es mitnehmen und dabei sein. Die Anonymität und die Unabhängigkeit genoss ich sehr, aber es gab es kaum jemanden, dem ich vertrauen oder auf den ich mich verlassen konnte. Schon bald merkte ich, dass mir etwas fehlte, aber ich wusste nicht was. Ich hatte alles und irgendwie doch nichts. Ich fühlte mich einsam in diesem Chaos und plötzlich kam die Sehnsucht nach Stille und Natur. Ich dachte ein Umzug in die Vorstadt wäre eine Lösung. Ich zog also in eine 1-Zimmer-Wohnung, etwas Abseits vom Geschehen in einer ruhigen Gasse. Hier besuchte mich seltener jemand, hier brauchte ich länger zum Zentrum. Doch mir fehlte immer noch etwas. Ich dachte an meine alten Freunde, an meine Familie und an einen besser bezahlten Job. Sollte ich doch in den Westen zurück gehen? Ich wusste einfach nicht, wohin mit mir. Obwohl es schmerzte, entschied ich mich Berlin zu verlassen. Und wieder ein Umzug. Es waren inzwischen so viele, dass ich sie noch nicht einmal an vier Händen abzählen konnte. Ein weiterer Versuch, mein inneres Gleichgewicht zu finden. Freunde, Kollegen, Bekannte und Unbekannte prophezeiten mir: »Du kommst wieder«. Ich kam mir vor, wie einem riesigen Labyrinth. Doch auch der Westen machte mich nicht viel glücklicher. Die Einbildung, dass alles wieder so sein würde wie früher, stellte sich als falsch heraus. Ich habe mich verändert, meine alten Freunde waren plötzlich weg und der besser bezahlte Job wurde zum Horror. Meine Familie war da, das war schön! Ich begann jedoch zu begreifen, dass mir die Wurzeln fehlten. Ich kannte den Westen und ich kannte Berlin. Tief vergraben in Erinnerungen und in einer Sehnsucht nach Geborgenheit, trug ich den Osten in meinem Herzen, aber ich kannte ihn nicht wirklich. Als wir damals vor dem Mauerfall in den Westen gingen, musste ich alles hinter mir lassen und plötzlich wusste ich nicht mehr, wer ich bin. Die Mauer gibt es schon lange nicht mehr und der Osten wartete darauf, von mir neu entdeckt zu werden. Ich stieg an einem schönen Sommertag in mein Auto und fuhr los. Dahin, wo die Sonne aufgeht. Und als ich an der Ostsee stand und mir die Sonne entgegenblinzelte, fasste mich mein Glück an meine Hand und ließ mich nicht mehr los. Ich spürte plötzlich wohin mein Herz gehörte und blieb hier.
Und nun nach zwei Jahren bin wieder in Berlin, eine Stadt, die einmal mein zu Hause war. Und obwohl ich meine, diese Stadt zu kennen, ist sie mir immer noch fremd. Die Distanz hat meinen Blickwinkel verändert. Berlin war ein Notausgang. Heute merke ich, dass mir diese Stadt zu groß, zu laut, zu unruhig ist. Die Straßen wecken Erinnerungen, um die Ecke wohnen ein paar Freunde. Leere Augen starren mich an, verwirrte Gestalten suchen nach Aufmerksameit. Eine Stadt in der sich viele einsame Herzen begegnen. Sie suchen nach Liebe und flüchten sich in Dunkelheit. Ihre Freiheit ist zwischen den Mauern der Häuser eingesperrt und ihr Blick kennt nur die Weite der breiten Straßen. Sie führen ein Doppelleben und keiner kennt sie so richtig. Ich schaue sie an und sehe: keine Wurzeln, keine Familie, schwankend, umherirrend, haltlos, in Gruppen aber trotzdem alleine. Hier wird dich Niemand vermissen. Ein Ort an dem das Kommen und Gehen an der Tagesordnung ist, künstlich geschaffen, voller Konsum und voller Sehnsüchte. Ich will hier weg, nach Hause. Dahin, wo mich die liebevollen Augen anschauen, wo mir die Stille Entspannung und die Natur Gelassenheit bringt. Da ist mein Glück, da ist meine Liebe.